TodesKlinge

Akademie des Verbrechens, Band 2

Eine Mädchenleiche, eine alte Mordserie und eine Schuld, die beglichen werden muss.

In einer Kinderheimruine auf Rügen wird eine grausam zugerichtete Leiche mit einer schwarzen Rose gefunden. Es ist die sechzehnjährige Isa. Ex-Kommissar Henry Zornik ist alarmiert. Vor fünf Jahren versetzte eine Mordserie an jungen Touristinnen die Insel in Angst. Die Tat heute trägt dieselbe blutige Handschrift des "Rosenmörders" von damals. Zornik selbst hatte ihn eigentlich überführt. Ist der Mörder von Isa ein Nachahmer? Oder tötet der wahre Rosenmörder erneut und hat mit seiner Todesklinge schon das nächste Opfer im Visier? Der Dozent an der Akademie des Verbrechens und seine Studierenden müssen neue Morde verhindern. Und sie ahnen nicht, wie nah ihnen der Täter schon ist.

 

Rowohlt Taschenbuch
Originalausgabe 544 Seiten
ISBN 978-3-499-01008-8 WG 2121
auch als Ebook erhältlich

 

Leseproben

  • DIENSTAG, 12. NOVEMBER 2019

    Kapitel 1

    Die Wildheit der Steilküste war einzigartig. Er atmete tief durch. Schon Caspar David Friedrich ließ sich 1818 von der Insel, ihren schroffen Kreidefelsen, den feinen Sandstränden, den tiefen Buchenwäldern, den grasbewachsenen Dünen und den spektakulären Sonnenuntergängen über dem Meer inspirieren. Den Namen und die Jahreszahl hatte ihm diese dicke Lehrerin mit dem strengen Blick im Kunstunterricht eingebläut, die ihn immer so abfällig wie eine Missgeburt behandelt hatte. Dabei war Kunst ein Schulfach, das er für völlig überflüssig hielt und ziemlich oft schwänzte, auch weil er mehr Angst davor hatte, von dieser Frau vor der ganzen Klasse getadelt zu werden, als einen Eintrag ins Hausaufgabenheft zu kassieren.

    Rügen, die Perle in der Ostsee, war auch seine Inspirationsquelle. Allerdings für Zerstörung. Auslöschen, Demolieren, Beseitigen, dem Erdboden gleichmachen, Unterdrücken, Töten, das war es, was ihn zutiefst befriedigte. Angstschreie klangen wie Musik in seinen Ohren. Einem anderen Menschen das Leben zu nehmen, war der Moment, in dem er sich groß und mächtig fühlte. Pulsierend heraus spritzendes Blut berauschte ihn wie eine Droge, wie

    Sex, nur besser. Dieses erregende Gefühl hatte er zum ersten Mal mit sieben gespürt, als er seinem Vater beim Schlachten von Kaninchen zugesehen hatte. Dieses Zappeln, dieser Blick aus den angstgeweiteten Augen, das letzte Aufbäumen vor dem Unausweichlichen, das dem Tier bestimmt war und das es nicht beeinflussen konnte, war faszinierend. nur ein Stich in den Hals, dann war es still. Der Körper erschlaffte. Es war vollbracht, ein Leben mit einer einzigen Handbewegung beendet. Und dann durfte er dem Tier das Fell abziehen. Dieses schmatzende Geräusch würde er nie vergessen. Er lächelte in Erinnerung an damals. Das war seine Welt. Er war eben der böse Friederich. So hatten ihn die Lehrerin und seine Mutter genannt. «Der Friederich, der Friederich, das ist ein böser Wüterich … », sagte er und drapierte ihr das lange schwarze Haar über die Schultern. Sie lag nackt, nur mit einem weißen Nachthemd bekleidet, auf dem Klapptisch, den sie genau wie den steinigen Strand ringsum mit einer Plastikfolie abgedeckt hatten. Ein Provisorium, das notwendig war, auch wenn die Flut in ein paar Stunden ohnehin alle Spuren wegspülte, wollten sie auf Nummer sicher gehen. Was das Mädchen wohl denkt, wenn es sie beide jetzt in ihren Schutzanzügen mit den Schutzbrillen sieht? Zu gerne hätte er sie gefragt, aber sie konnte ihm nicht antworten. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie konnte weder schreien noch sich rühren. Sie hatten sie mit einem Nervengift betäubt, das ihre Muskeln lähmte. Doch da war etwas in ihren Augen, das ihn irritierte. Trotz. Sie schien keine Angst vor dem Tod zu haben, selbst als er ihr mit der Messerklinge über die Kehle fuhr, sprühten ihre Augen Funken. Vor Wut! Nein, so schaffte er es nicht. Sie verunsicherte ihn. Er konnte ihrem Blick nicht standhalten und gab das Messer ab.

    «Was?»

    «Stich du ihr die Augen aus!», befahl er und trat einen Schritt beiseite.

    «Wieso ich?»

    «Ich kann so nicht», sagte er.

    «Du musst sie bestrafen. Sie hat uns gesehen.»

    «Bring du es zu Ende.» Er wendete sich ab und schlug die Hände vors Gesicht.

    «Jetzt reiß dich zusammen, wir machen es genau so, wie es abgemacht war. Sie hat es verdient.»

    Er nahm das Messer zurück, atmete tief durch und setzte die Spitze der Klinge an ihrem linken Auge an, aber zögerte wieder.

    «Schau sie an und denk daran, was sie getan hat.»

    Er wusste genau, dass ihr letzter Blick ihn verfolgen, sich in seinem Kopf ausbreiten und seine Gedanken beherrschen würde. Trotzdem spannte er seine Muskeln an und stach zu, zweimal. Gallertartige Flüssigkeit quoll aus ihrem Kopf hervor. Mehr schaffte er nicht. Er gab das Messer wieder ab und sah mit zusammengebissenen Zähnen zu, wie die scharfe Klinge sich tief im Hals versenkte und das Blut in einer Fontäne herausspritzte.

  • MITTWOCH, 13. NOVEMBER 2019

    Kapitel 2

    Henry stand vor der Tafel im Hörsaal 2 und gab seinen Studierenden einen Moment Zeit, sich Notizen zu machen. Draußen konnte man dank des Novembernebels den Park um das Jagdschloss nur erahnen. Es lag unweit von Bergen, und in ihm hatte die Academy of Criminal Investigation ihren Sitz. Er fand diese mystische Stimmung genau passend für das Institut, von dem nicht jeder wissen sollte, dass hier eine neue Generation von Verbrechensbekämpfern ausgebildet wurde, die später als Kriminologen mit besonderen Fähigkeiten an der Seite von Polizeibeamten gerade in schweren Fällen wie organisierter Kriminalität, Terror und Mord mitarbeiten sollten, ähnlich einer Taskforce. Auf der Insel Rügen rankten sich viele Gerüchte um diesen fast geheimen Ort, der bei den Einheimischen nur Akademie des Verbrechens hieß.

    Die dunklen Wolken am Himmel hingen heute so tief, als wollten sie sich auf den Wipfeln der Bäume ausruhen. Selbst jetzt am Mittag war es so dunkel, dass der Kronleuchter über den aufsteigenden Bankreihen eingeschaltet war. Er wartete, bis die 15 Studierenden seines Kurses ihre Köpfe hoben, und schaute in die aufmerksamen Gesichter. «Bei tödlichen Sexualdelikten handelt es sich primär um die Vergewaltigungsabsicht zum Lustgewinn», sagte er, wischte die Tafel ab, trat an das Lehrerpult und packte schon mal seine Unterlagen in die Tasche, damit er pünktlich gehen konnte, wenn es in drei Minuten zur Pause klingelte. «29 Prozent der Täter bringen ihre Opfer aus diesem Motiv dann auch um. Bei 71 Prozent findet die Tötung aber ausschließlich aus Angst vor Entdeckung statt. Morgen machen wir dann dort weiter und werden uns damit beschäftigen, wie man anhand des Modus Operandi den Unterschied in den Motiven erkennen kann», sagte er und beendete die Einführungsvorlesung zur neuen Lektion im Kurs Wie man einen Mörder fängt. In der ersten Einheit stand das Thema Mordmotive bei Sexualdelikten auf dem Plan, zu dem er heute unbedingt noch einen passenden Fall heraussuchen musste. Den wollte er ihnen zur nächsten Vorlesung präsentieren. Seitdem er das Prinzip der Praxisnähe anwendete und die Theorie mit echten Verbrechensbeispielen würzte, bei denen die Studierenden nach neuen Ermittlungsansätzen in kalten ungelösten Fällen suchten, waren seine Vorlesungen so beliebt, dass es Wartelisten für den Kurs gab. Die Studierenden mussten sich die Teilnahme erst in einem Test verdienen, anhand dessen er seine Auswahl traf. entsprechend engagiert arbeiteten sie mit und hatten die Theorie eines Themas bereits vor der Stunde durchgeackert. Gemeinsam werteten sie dann im praktischen Teil alle bekannten Fakten des Falls aus, trugen weitere Informationen zusammen, entdeckten neue Spuren und übten Hypothesenbilden zu Tathergängen und Tatmotiven und erstellten Täterprofile. Schließlich war es sein Auftrag als Dozent, ihnen seine besondere Ermittlungsmethode beizubringen. Es nützte schließlich auch nicht, theoretisch zu wissen, wie man Fahrrad fuhr, man musste es üben, um sich im Sattel zu halten. Genauso verhielt es sich in einem Mordfall damit, den Details Aufmerksamkeit zu schenken, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen und sie in der Praxis zu überprüfen.

    Es klingelte. Henry verabschiedete sich bei seinen Studierenden mit einem Kopfnicken.

    Marcus, ein junger Mann mit eisblauen Augen und weichen Gesichtszügen, die von blonden Locken wie bei einem Engel umrahmt wurden, stand auf und trat auf ihn zu. «Das würde ja im Umkehrschluss bedeuten, dass Serienmörder, die ihre Opfer auf eine bestimmte Art auffällig präsentieren, erwischt werden wollen.» Sein verschmitztes Grinsen gefiel Henry gar nicht. Das setzte er nur auf, wenn er etwas vorhatte, das anderen Mitmenschen in der Regel nicht gefiel.

    «Ihr Umkehrschluss ist mir zu einseitig gedacht. Mir ist noch kein Täter begegnet, der erwischt werden wollte. Vielleicht fühlt sich so ein Täter, der die Opfer auffällig drapiert, einfach überlegen?»

    «War das so beim Rosenmörder, den Sie damals gefasst haben?» Aha, daher wehte der Wind. Der Student aus dem zweiten Jahr hat sich wohl in Vorbereitung des neuen Themas daran erinnert, was Henry den Studierenden über den Rosenmörder-Fall zu Beginn seiner Dozententätigkeit erzählt hatte. Er schaute Henry erwartungsvoll an. Marcus war ein Schlitzohr mit einem messerscharfen Verstand und einer blitzschnellen Beobachtungsgabe. Ganz sicher verfolgte er mit dieser Äußerung ein Ziel. Wollte er etwa, dass Henry seinen letzten Fall als Kommissar bei der Stralsunder Mordinspektion zum Unterricht mitbrachte? Einen Teufel würde er tun!

    «Auch wenn der Täter zum Lustgewinn tötet und sich überlegen fühlt, hat er doch sicher Angst, entdeckt zu werden. Ist es da nicht fahrlässig, seine Opfer so unverkennbar zu inszenieren?»

 

Todesglut

Akademie des Verbrechens, Band 1

Ein besonderes Institut, eine grausam verbrannte Leiche, ein krankes Spiel auf Leben und Tod.

«Denkt wie die Mörder!» Das predigt der eigenwillige Kriminologe und Ex-Kommissar Zornik an der «Akademie des Verbrechens» in einem Gutshaus auf Rügen. In seinem Kurs lernen die Studierenden an echten, ungelösten Fällen. Dieses Semester: eine grausig verbrannte Leiche in der Stadtbibliothek von Bergen. Der Wettkampf beginnt: Wer ermittelt besser, Zornik oder die Neulinge? Doch aus dem Lehrplan wird gefährlicher Ernst. Als ihm ein brutaler Straftäter von früher das Messer an die Kehle setzt, weiß er: Sie kommen dem Täter oder der Täterin nah – zu nah. Nun muss er alles tun, sein Leben und das der Studierenden zu retten. Denn das grausame Spiel auf Leben und Tod hat gerade erst begonnen.

 

Rowohlt Taschenbuch
528 Seiten
ISBN: 978-3-499-00804-7

 

Leseproben

  • Samstag, 7. September 2019

    Das Sanierungsobjekt glich einer hohlen Kulisse. Das Dach löchrig, Zwischendecken eingestürzt, die Treppe aus Holz marode, nackte Stütz- und Außenmauern erinnerten an Knochen eines Skeletts.

    Er musterte sie, wie sie mit dem Rücken zum Geländer des inneren Baugerüstes stand und freudestrahlend auf eine mit Bauschutt übersäte Fläche zeigte.

    «Und dahinten kommt das Schlafzimmer hin, mit großem Panoramafenster. Jeden Morgen aufwachen mit Meerblick, herrlich.»

    Sie nahm eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie sich zwischen die Lippen und suchte nach dem Feuerzeug. Getrieben von der Gier nach Nikotin durchwühlte sie ihre Handtasche. Sie runzelte die Stirn.

    «Haben Sie Feuer?», fragte sie ihn.

    Er lächelte, zog sein Feuerzeug aus der Jackentasche und stieß es kraftvoll gegen ihr Brustbein. Sie verlor das Gleichgewicht. Es knackte, als die provisorische Holzbrüstung nachgab. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, ihr Schrei ging unter im Rufen der Kraniche.

    Dumpf landete ihr Körper zwei Etagen tiefer auf dem Fundament, aus dem Bewehrungsstäbe wie Spieße herausragten.

    Eine der rostigen Eisenstangen hatte sich durch ihren Rücken gebohrt und trat aus dem Bauch wieder aus. Er hielt sich die Hand vor den Mund. Schrecklich, was auf einer ungesicherten Baustelle alles passieren kann.

    Nach vorn gebeugt, betrachtete er sein Werk aus der Vogelperspektive. Da lag sie, in einer öligen Pfütze auf dem Beton, Arme und Beine unnatürlich verdreht. «Entschuldige, Dorothea, aber du siehst aus wie ein aufgespießtes Hähnchen», rief er nach unten.

    Er musste grinsen. Zweifellos, er besaß ein Talent zum Töten. Die Kraniche flogen im roten Licht der untergehenden Sonne weiter in die Ferne. Tief durchatmend leckte er sich die Lippen. Die Seeluft schmeckte salzig. im Hintergrund rauschte die Ostsee. Was für ein herrlicher Moment, an einem wunderschönen Flecken Erde. Vorsichtig stieg er die Treppe hinab.

    Als er unten ankam, hatte ihr Blut schon eine Lache gebildet. Es mischte sich mit dem Diesel, dessen Geruch ihm scharf in die Nase stieg. Ihr Körper zuckte noch. Ihre Augen blickten flehend und waren unnatürlich aus den Höhlen getreten. Er lächelte ihr zu. Ein Mensch im Todeskampf sollte kein grimmiges Gesicht sehen. So grausam war er nun auch wieder nicht.

    Er würde ihren letzten Wunsch erfüllen. Er holte seine Zigaretten raus, zündete Dorothea eine an und steckte sie ihr zwischen die Lippen. Schnell trat er ein paar Schritte beiseite.

    «Na komm, nimm noch einen Zug», sagte er in aufmunterndem Ton und schaute aus sicherer Entfernung, wie ihr die Zigarette fast in Zeitlupe aus dem Mundwinkel rutschte.

    Als die Glut die Flüssigkeit auf dem Boden berührte, entzündete sie sich explosionsartig. Eine Stichflamme schoss empor, und das Feuer strahlte unmittelbar eine enorme Hitze ab.

    Er entfernte sich ein paar weitere Schritte. Fasziniert schaute er in die Flammen. Das Hölzchen brennt gar hell und licht, das flackert lustig, knistert laut …

    Erst als es anfing, bestialisch nach verbranntem Fleisch zu stinken, wendete er sich ab. Das wäre erledigt.

    Mit einem Lied auf den Lippen verließ er das Grundstück mit Meerblick, in Alleinlage an der Steilküste unweit von Binz. Dort kehrten die Touristen an der Strandpromenade wahrscheinlich gerade in einem der zahlreichen italienischen Restaurants zum Abendessen ein. Auch er verspürte Hunger. Den Hunger nach mehr.

    Die Zeit war reif, es zu Ende zu bringen. Ab jetzt würde es jedem so ergehen, der seine Pläne durchkreuzte.

  • Montag, 9. September 2019

    Kapitel 2

    Die Abendsonne tauchte die Häuser der Altstadt von Bergen, der Inselhauptstadt von Rügen, in ein oranges Licht. Charlotte eilte über den Markt zur Stadtinformation im historischen Benedixhaus, einem liebevoll restaurierten Fachwerkbau von 1538. Die Luft an diesem Septemberabend war warm, und sie hatte ihre Strickjacke ausgezogen und über ihre grasgrüne Beuteltasche gelegt. Eine Windböe wehte ihr eine Haarsträhne ins Gesicht. Es spiegelte sich im Schaufenster der Tourist Information. Mit einem letzten Blick prüfte Charlotte ihr Äußeres. Die dunkelbraunen Locken, kombiniert mit einer randlosen Brille, dazu das wadenlange Tupfenkleid. Der Look machte sie zehn Jahre älter und zehn Kilo schwerer. Völlig unscheinbar und ausgesprochen provinziell. Perfekt passend zu der Reisegruppe, die den Rundgang schon begonnen hatte und gerade um den Brunnen auf dem Marktplatz stand.

    In ihrem Körper breitete sich die gleiche Anspannung aus, die sie von mündlichen Prüfungen kannte. Du hast alles mit Bravour bestanden, also hör jetzt auf, dich verrückt zu machen. Sie atmete tief durch, marschierte auf die Gruppe zu und mischte sich unter die älteren Herrschaften. Hier eine Geste, da ein Lächeln und dort ein freundliches Wort genügten, um mit den Tagestouristen ungezwungen Kontakt aufzunehmen.

    Der Anfang war gemacht. Konzentrier dich, bleib locker und lass dich auf die Situation ein!

    Die älteren Damen und Herren hörten der Gästeführerin, die das historische Gewand einer Fischerfrau trug, aufmerksam zu. «1540 bezeichnete man den heutigen Marktplatz als Olde Richt-stede. Alte Zeichnungen belegen, dass hier ein Pranger stand, an dem Verurteilte öffentlich ausgestellt wurden. Am Schandpfahl daneben hat man die Gesetzesbrecher ausgepeitscht. Manch einen bis zum Tode. Der Brunnen erinnert an den Pfuhl, den es hier einst gab. Große Brände zogen später nicht nur den Marktbereich mit der Kirche immer wieder in Mitleidenschaft. 1538 fielen hier 55 Bauten den Flammen zum Opfer, 1690 brannte das Rathaus ab, 1724 sogar 64 Gebäude und 2016 die Stadtbibliothek, ein weiteres wichtiges Ziel auf unserem Rundgang.» Sie hob den Arm und gab die Richtung vor, in die sie nun laufen würden. «Weiter geht’s zu den schaurigsten Tatorten auf den verbrecherischen Spuren der von Bredows, deren Bluttaten bis in das 21. Jahrhundert reichen.»

    Das klang überraschend interessant, fand Charlotte. Sie hatte den Inhalt der Stadtführung nicht bewusst ausgewählt, aber eine Krimitour passte zu ihrem Vorhaben. Sie nahm es als gutes Zeichen und musterte die Gästeführerin, ihre schwarze Tracht und den kegelförmigen Hut, unter dem ein freundliches, frisches Gesicht rosig strahlte. Offenbar ernährte die Frau sich gesund und verbrachte viel Zeit an der frischen Seeluft. Der offene Blick, das ehrliche Lächeln und die entspannte Körperhaltung sprachen dafür, dass sie ausgeglichen war und ihren Job liebte. Sie wirkte kompetent und hatte keine Angst, vor einer Menschenmenge zu reden. Charlotte spürte eine leise Bewunderung in sich aufsteigen, sie selbst wurde bei Präsentationen vor mehr als zehn Personen immer nervös. Sie blinzelte. Nicht ablenken lassen, konzentriere dich gefälligst!

    Bereits auf dem kurzen Weg bis zum Sagen- und Märchenhotel, einem rot getünchten Fachwerkbau, kam Charlotte mit drei älteren Herrschaften ins Gespräch. Sie waren über siebzig, braun gebrannt, wirkten recht fit und trugen im Gegensatz zu vielen anderen Leuten in ihrem Alter farbenfrohe Kleidung im Matrosenstil. Hannelore, Sigrid und Eddi hatten sich gleich mit Vornamen vorgestellt und Charlotte das Du angeboten. Sie erfuhr, dass sie alle drei aus demselben Dorf in Sachsen kamen und zusammen eine Woche Urlaub auf Rügen machten, dass Hannelore eine Hüftprothese hatte, dass Sigrid verwitwet war und dass Eddis Goldzahn ein Vermögen gekostet hatte. Charlotte plauderte und bemühte sich, unbeschwert mit ihnen zu lachen. Langsam wurde sie lockerer, auch wenn sie den dreien ihr freundschaftliches Theater nicht abkaufte. Ihr wollt mir weismachen, dass ihr die besten Freunde seid, aber das stimmt nicht. Ihr seid eifersüchtig aufeinander und versucht euch vermutlich schon ein Leben lang gegenseitig zu übertrumpfen. Sie spürte, dass sie die drei Rentner anstarrte. Stopp! Sie musste sich auf das konzentrieren, was von ihr erwartet wurde. Nervös rückte sie sich die Brille zurecht. Nun musste es bald ernst werden.

    Plötzlich stolperte sie über die eigenen Füße. Solche Missgeschicke passierten ihr oft, wenn sie sich in Menschen einfühlte, die sie gerade bewusst beobachtete. Dann war sie abgelenkt, weil sie in Gedanken sofort Persönlichkeitsprofile produzierte. Aber so wie jetzt auf Kommando zu stolpern, bedurfte einiger Übung. eine Stunde hatte es gestern zu hause gedauert, bis es absolut natürlich aussah. Die Geduld zahlte sich jetzt aus.

    Hannelore reagierte überraschend geistesgegenwärtig, fing sie auf und stützte sie. Blitzschnell griff Charlotte der alten Dame in die Handtasche. Hatte sie etwas bemerkt? Nein, erleichtert stellte Charlotte fest, dass Hannelore sie nur besorgt ansah.

    Sie gingen weiter. Charlotte ließ keine Zeit verstreichen. Vor dem Maklerhaus, einem imposanten Bau mit einer Uhr und einem barocken Balkon, lächelte sie Eddi charmant an und bat um ein Selfie mit ihm, um näher an seine Schultertasche heranzukommen. Er posierte bereitwillig neben ihr, und sie spürte, wie er unauffällig an ihrem Hals roch. Ein Schatten legte sich über sein Gesicht. Mein Parfüm erinnert ihn vermutlich an eine schmerzhafte Erfahrung, einen Verlust, dachte sie und konnte ihm nicht böse sein, dass er ihr so nah gekommen war. Sie umarmte ihn hinter dem Rücken und griff dabei in seine Umhängetasche. Schnell zog sie ihre Hand wieder zurück, als er sie irritiert musterte. Nein, auch er hat nichts bemerkt, sie erinnerte ihn bloß an jemanden. Noch immer lag eine Traurigkeit auf seinen Zügen. Wahrscheinlich würde er sie jetzt nicht mehr aus den Augen lassen. Charlotte schenkte ihm einen mitfühlenden Blick, drückte seine Hand und bedankte sich.

    Sie schlenderten zur oberen Dammstraße hinüber, wo sich der Rest der Gruppe im Café Meyer ein Eis kaufte. Charlotte entschied sich für eine Kugel Schokolade und tat entsetzt, als sie Sigrid ungeschickt mit dem Eis die Jacke beschmierte.

    «Dafür gibt es doch Waschmaschinen», sagte die Rentnerin und beteuerte, dass sie nicht böse war.

    Charlotte entschuldigte sich überschwänglich und versuchte, den Schaden mit ihrem Taschentuch zu beseitigen. Dabei ließ sie die Finger der anderen Hand unauffällig in Sigrids Jackentasche gleiten. Du tust nur so, dachte sie. Dein verkniffener Gesichtsausdruck verrät, dass deine Freundlichkeit nur gespielt ist. Du bist stinksauer auf mich, weil du nun den ganzen Tag mit diesem Fleck auf der Brust herumlaufen musst. Akkurat sitzendes Haar, keine Knitterfalte an der Kleidung, und jetzt dieser Fleck. Eine Katastrophe! Noch dazu, weil deine sogenannte Freundin Hannelore ihre Schadenfreude offen zeigt. Dafür würdest du sie am liebsten vergiften. Das wird dich den ganzen Tag grämen, aber du reißt dich zusammen und willst dir nichts anmerken lassen.

    «Kommen Sie, Kindchen, sonst verpassen wir noch die Hälfte der Schauergeschichten.» Sigrid hakte Charlotte unter, und beide beeilten sich hinterherzukommen. Charlotte war ganz zufrieden damit, wie die Dinge liefen.

    Die Reisegruppe schlenderte an der Trattoria Russo vorbei. Eine Duftwolke nach frisch gebackener Pizza wehte herüber. Charlottes Blick blieb an einem jungen Mann hängen. Er saß im Biergarten bei einem Espresso, die Schiebermütze ins Gesicht gezogen. Selbst aus der Entfernung meinte sie, seine intensiven wasserblauen Augen sehen zu können. Es verunsicherte sie, dass er sie beobachtete. Das war nicht abgemacht. Das Schmunzeln um seinen Mund wurde breiter, als sie sich noch einmal zu ihm umdrehte. Charlotte presste die Lippen zusammen und warf ihm einen warnenden Blick zu. Er wollte sie aus dem Konzept bringen. Und was noch schlimmer war: Hannelore, die nun links neben ihr lief, schien ihn ebenfalls bemerkt zu haben.

    «Meine Liebe, Sie müssen lächeln, wenn Ihnen ein Mann mit so einem Engelsgesicht schöne Augen macht», sagte sie und zwinkerte geheimnisvoll.

    Obwohl sie erleichtert war, dass Hannelore ihr nicht auf die Schliche gekommen war, wuchs in Charlotte die Anspannung. Sie spürte, wie ihr Nacken verkrampfte.

    Die Gästeführerin an der Spitze der Gruppe blieb stehen und zeigte in Richtung Jasmunder Bodden, wo hinter dem Waldgebiet des Rugard die Turmspitze des Jagdschlosses der von Bredows zwischen den Wipfeln hervorblitzte.

    «Auch wenn das Herrenhaus von Weitem wie ein Spukschloss anmutet, heute muss niemand mehr vor den Bewohnern zittern», sagte sie. «Nach jahrhundertelangem Raubrittertum und Morden haben die von Bredows eine private Akademie gegründet, die seit 2015, also nunmehr vier Jahren, im Jagdschloss untergebracht ist. Wir Rügener bezeichnen sie landläufig als Die Akademie des Verbrechens.» Sie malte Gänsefüßchen in die Luft. «Eine Ausbildungsstätte, in der die Studierenden alles über Kriminalität, ihre Entstehung, Ausführung und Bekämpfung in Vergangenheit und Gegenwart erlernen.»

    «Also eine Polizeischule», fasste Eddi zusammen.

    «Nein, eine private Hochschule, die offiziell Academy of Criminal Investigation heißt. Ziel ist es, mit einem interdisziplinären Studium neue Wege zu gehen, um eine Elite auszubilden, die den heutigen hohen Anforderungen der Verbrechensbekämpfung allumfassend gewachsen ist.»

    Sigrid neigte den Kopf zu Charlotte. «Eine jahrhundertealte Verbrecherbande, die in ihrem Schloss das Verbrechen erforschen lässt», sagte sie kichernd. «Wer weiß, was die hinter den dicken Mauern wirklich treiben?»

    «Wo kann man dann mit diesem elitären Abschluss arbeiten?», fragte Eddi. «Der Staat knausert doch so schon bei den Ausgaben für seine Polizei. Ich glaube kaum, dass er bereit ist, teure Eliteabsolventen von einer Privatschule einzustellen.» Er sah Charlotte an, als wüsste sie die Antwort darauf, aber sie lächelte nur und zuckte ratlos mit den Schultern. Sigrid, die sich immer noch an ihrem Arm festhielt, verdrehte die Augen.

    Die Fremdenführerin reckte den Kopf. «Darauf kann ich Ihnen leider keine Antwort geben. Am besten, Sie schauen sich einmal auf der Homepage der Akademie um.» Sie nannte ihnen die internetadresse. «Ich weiß nur, dass die Bewerberinnen und Bewerber mindestens 23 Jahre alt sein und sich einem harten Auswahlverfahren unterziehen müssen. Und dass der Abschluss international anerkannt ist.»

    Die Kirchenglocken läuteten. Achtzehn Uhr. Charlottes Zeit war fast um. Ihr Blick schweifte leicht nervös über den Kirchplatz, auf den sie abbogen, und tatsächlich, da war er wieder. Jetzt stand er mitten auf dem Platz, lässig an einen Baum gelehnt, die Schiebermütze in den Nacken geschoben, und beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Ihre Blicke trafen sich, was Hannelore nicht verborgen blieb. Sie stupste Charlotte in die Seite und lächelte vielsagend.

    «Der meint es ernst.»

    Charlotte holte tief Luft und sah, wie der junge Mann auf seine Armbanduhr tippte. Ich weiß, wie spät es ist, dachte sie.

    Nicht nur die Möwen auf dem Kopfsteinpflaster schien der Glockenschlag aufzuscheuchen, auch die Gästeführerin beschleunigte ihren Schritt. Sie unterbrach die Gespräche in der Gruppe und zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf das Fachwerkhaus, über dessen eingang «Stadtbibliothek» stand.

    «Unser nächster Tatort. hier haben wir es mit einem aktuelleren Kriminalfall zu tun», rief sie laut, stieg die Stufe des Eingangsportals hinauf und drehte sich zu ihnen um.

    «Vor drei Jahren brannte das Gebäude, das hier vorher stand, bis auf die Grundmauern ab. ein Inferno wie in Salem. Der Buchbestand von 63 534 Exemplaren wurde fast komplett vernichtet. Und die Feuerwehr fand bei den Löscharbeiten menschliche Überreste.»

    Die Damen und Herren rings um Charlotte warfen sich entsetzte Blicke zu. Sigrid faltete ihre Hände wie zum Gebet.

    «Eine Leiche», flüsterte sie.

    Die Rentner tuschelten, und die Gästeführerin hob zur Ruhe mahnend die Hand. Sie war mit ihren Ausführungen noch nicht fertig. «Es ist ein Rätsel, das die Polizei bis heute beschäftigt, denn die Identität der verbrannten Frau wurde nie geklärt.»

    «Trotz der technischen Möglichkeiten mit DNA-Gedöns und was es da sonst noch alles gibt?», fragte Hannelore.

    «Manche Verbrechen haben sie mit der modernen Technik erst nach zehn oder zwanzig Jahren aufgeklärt», murmelte ein Glatzkopf neben ihr.

    «War es denn überhaupt ein Verbrechen?», wollte Sigrid wissen.

    Die Gästeführerin wiegte den Kopf hin und her. «Vermutlich schon. Höchstwahrscheinlich Brandstiftung.»

    Hannelore tippte Charlotte an. «Ich muss mal für kleine Mädchen», flüsterte sie, dann vertraute sie Charlotte ihre Handtasche an und verschwand in der Bibliothek.

    «Meistens sind es die Feuerwehrleute selbst», verkündete Eddi.

    Okay, das reichte. Charlotte schaute auf ihr Handy, das sie vor der Tour stummgeschaltet hatte. Das Display zeigte drei Anrufe in Abwesenheit von ihrer kleinen Schwester. hoffentlich war nichts passiert. Charlottes Schwester war erst sieben, und es kam selten vor, dass sie so oft hintereinander anrief. Charlotte würde sie gleich zurückrufen. Die Rentner um sie herum redeten laut durcheinander. Das war ein guter Moment, um zu verschwinden, und Krümel musste nicht warten.

    Charlotte tippte auf die Nummer und hielt das Telefon ans Ohr. Mit einem entschuldigenden Blick entfernte sie sich von der Truppe und beschleunigte dann ihren Schritt in Richtung Kirche. Jetzt ging niemand ran. Ein ungutes Gefühl kroch ihr den Rücken hoch. Sie warf ihr Handy in die Handtasche und versuchte, die Sorge beiseitezuschieben. Krümel würde es wieder versuchen, und sie musste sich jetzt auf das hier und Jetzt konzentrieren. Sie bog um die Ecke und huschte in die Kirche.

    Drinnen roch es nach feuchtem Stein und verbranntem Kerzenwachs. Es war so kühl, dass sie fröstelte. Suchend schaute sie sich um. Das schummrige Licht des Kronleuchters reichte nicht bis in die Nischen, deshalb sah sie die beiden erst, als sie aus einer dunklen Ecke traten. Anscheinend waren sie die einzigen in der Kirche. Blitzschnell zog Charlotte sich die Perücke vom Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch das glatte rote Haar, das ihr seit Kurzem nur noch bis auf die Schultern fiel. Sie setzte die Brille ab, schlüpfte aus den Schuhen und dem übergroßen Kleid, unter dem sie Shorts und ihr Lieblings-T-Shirt mit dem Eulenprint trug. Sie zog die Flipflops an, während sie ihre Verkleidung rasch in den Rucksack stopfte, den Marcus ihr hinhielt.

    «Wo bleibst du denn? Wir dachten schon, du gehst die komplette Runde mit», flüsterte er, setzte die Schiebermütze ab, löste den Haargummi und fuhr sich mit den Fingern durch die blonden Locken, die seine weichen Gesichtszüge umspielten. Er sah tatsächlich aus wie ein Engel, dachte Charlotte, doch das täuschte. Er hatte es faustdick hinter den Ohren. Und seine Ungeduld nervte sie.

    «Du hast versucht, mich aus dem Konzept zu bringen», beschwerte sie sich.

    «Nein, habe ich nicht. Ich wollte lediglich beobachten, wie du dich anstellst. Damit ich dir für die ein oder andere Situation noch Tipps geben kann.»

    «Lügner. Du und mir Tipps geben! Du hast bloß Angst, dass ich besser bin als du», sagte sie empört. «Eine der Rentnerinnen hat deinen Blick bemerkt. Das hätte danebengehen können, du Idiot.» Sie ballte die Fäuste.

    Marcus winkte ab. «Aber sie hat ihn falsch gedeutet. Wenn ich das aus der Entfernung richtig gesehen habe, hat sie gelächelt.»

    Charlotte verschränkte die Arme vor der Brust. Eigentlich mochte sie Marcus. Sie beide verband eine ähnlich schwierige Kindheit, außerdem war er ein brillanter Beobachter mit einer blitzschnellen Auffassungsgabe und ein geschickter Taschendieb. Privat war er ein echter Kumpel. Mit ihm konnte sie sonntags im Bett Chips essen und stundenlang Serien gucken, ohne dass sie sich um die Fernbedienung stritten, ohne Angst, dass er die Situation ausnutzte und falsche Schlüsse zog. Hatte sie irgendwelche Schwierigkeiten, reichte ein Anruf, und Marcus war da. Sogar nachts. Auf der anderen Seite war er nervtötend ehrgeizig und musste aus allem immer einen Wettstreit machen. Er war ein schlechter Verlierer, dabei wusste Charlotte, dass er mit seiner selbstgefälligen Arroganz nur sein Minderwertigkeitsgefühl überspielte. Je nach Stimmung tat er ihr leid, oder sie war genervt.

    Bevor sie etwas entgegnen konnte, hob Borowski, der ihnen stumm zugehört hatte, die Hand und unterbrach ihren Schlagabtausch. «Was hast du zu bieten?», fragte er Charlotte und sah sie erwartungsvoll an.

    Sie leerte ihre Tasche und zeigte ihre Ausbeute: eine Uhr, zwei Kreditkarten sowie Hannelores handtasche.

    Borowski begutachtete die Stücke. Charlotte bewunderte ihren Lehrer, weil er sich mit jeder Verkleidung, die er trug, binnen einer Sekunde authentisch in die Person verwandelte, die er gerade verkörpern wollte. Genau wie der Gentleman Gauner Arsène Lupin, dessen Geschichte er ihnen zur Pflichtlektüre auferlegt hatte. Jetzt, in der Rolle als Pfarrer, strahlte Borowski mit jedem Blick, jeder Bewegung eine innere Ruhe aus, wie sie fast nur Geistliche haben. Außerdem sah er verdammt gut aus.

    Marcus zog die Stirn in Falten. «Ganz schön mager, Madame Übervorsichtig.»

    «Ich bin halt nicht so leichtsinnig wie du», entgegnete Charlotte schnippisch, um ihre Verunsicherung zu überspielen. «Und das ist ja noch nicht alles. Ich weiß, wo Sigrid, die eine ältere Dame, ihren ersten Kuss bekommen hat, und ich kenne das Amazon-Passwort von dem Rentner mit Strohhut. Wir könnten ohne Ende einkaufen. Außerdem habe ich erfahren, dass die dritte, Hannelore, allein wohnt und am Wochenende nach Gran Canaria fliegt.» Sie wedelte mit der gestohlenen Handtasche. «Wir könnten in ihr Haus, wenn wir wollten, aber das werden wir ja nicht tun.»

    Trotz der Sticheleien von Marcus breitete sich eine gewisse Zufriedenheit in ihr aus, vor allem wenn sie sich zurückerinnerte, wie aufgeregt sie vorher gewesen war. Ein Gefühl, das sie selten verspürte, denn ihr Anspruch an sich selbst war sehr hoch. Sie musste noch viel lernen, aber das war in Ordnung, denn deswegen veranstalteten sie das alles ja. «Und auch die Rolle als Altenpflegerin haben sie mir abgekauft. ich habe drei Jobangebote bekommen.»

    Marcus lachte auf, während er immer noch lässig an die Steinsäule gelehnt stand. «Und was hast du noch? Ist Sigrid verheiratet?» Er zog seinen Blouson aus, drehte das karierte Futter nach außen und schlüpfte wieder hinein.

    Mist, auf einen Ring hatte sie in ihrer Aufregung gar nicht geachtet. Dabei war das explizit ihre Aufgabe gewesen. Charlotte zuckte mit den Achseln.

    «Lass mich dich aufklären», sagte Marcus wichtigtuerisch, klebte sich einen Schnauzbart an, setzte eine Sonnenbrille auf und tauschte die Schiebermütze gegen eine Basecap. «Sie ist verwitwet, denn sie trägt an der rechten Hand zwei goldene Eheringe übereinander. Die hättest du ihr übrigens mit etwas mehr Geschick ganz leicht vom Finger ziehen können. Außerdem hat sich dieser Rentner mit Strohhut heute Morgen beim Rasieren geschnitten, was wohl an den zitternden Händen liegt, die in Kombination mit dem zögerlichen Schritt entweder auf eine beginnende Parkinsonerkrankung oder übermäßigen Alkoholkonsum hinweisen.»

    Milde lächelnd stoppte Borowski Marcus’ Redefluss. «Gut, wir wissen, dass du der beste Beobachter bist. Aber lasst uns rekapitulieren: Was hat Charlotte richtig gemacht?»

    «Also gut. Sie hat unseren Grundsatz angewendet», sagte Marcus und warf ihr einen aufmunternden Blick zu. «Verunsichere deine Zielperson. Sei die Lösung ihres Problems. Das schafft Vertrauen, dann kannst du zuschlagen. Das hat Charlotte besonders in der Situation mit dem Eis sehr geschickt angestellt.»

    «Richtig. Allerdings verlief das Zuschlagen noch zu zögerlich. Da braucht es noch etwas mehr Mut», sagte Borowski. Er warf die Ausbeute in Hannelores Handtasche, und Marcus nahm sie an sich. Draußen ertönte das Martinshorn eines Polizeiautos.

    Borowski horchte auf. «Los, wir müssen uns beeilen.»

    Charlotte malte sich schnell die Lippen rot an, und Marcus machte sich auf den Weg zum Ausgang. Plötzlich durchschnitt das schrille Klingeln eines Handys die Stille in der Kirche. Charlotte zuckte zusammen. Sie kannte den Ton. Mit starrem Blick schaute sie zu Marcus. Der blieb abrupt stehen, drehte sich um und hielt Hannelores Handtasche hoch. Charlotte rannte zu ihm, riss ihm die Tasche aus der Hand und fischte ihr Handy mit der gelben Hülle heraus. Marcus sah sie entgeistert an.

    «Bist du wahnsinnig? Das hätte verdammt schiefgehen können. Stell dir vor, die alte Dame findet nachher ihre Handtasche auf der Bank wieder. Sie wird nachsehen, was fehlt. Und das höchstwahrscheinlich in Anwesenheit der Polizei. Dann steckt da dein gelbes Handy drin. Den Rest kannst du dir denken, oder? Auch wenn wir heute nur üben und alles zurückgeben, ist das Ganze illegal, und die Polizei sollte besser nichts davon mitbekommen.»

    «Ich weiß», sagte Charlotte schuldbewusst. Das Handy musste ihr vorhin in die falsche Tasche gerutscht sein. Es klingelte immer noch. Sie schielte auf das Display.

    «Meine kleine Schwester, es könnte wichtig sein», sagte sie in entschuldigendem Ton.

    «Wichtiger als was?», sagte Marcus erbost. «Willst du, dass uns die Polizei erwischt, weil du jetzt unbedingt mit deiner kleinen Schwester sprechen musst?»

    Charlotte schaute auf das klingelnde Telefon in ihrer Hand und nahm das Gespräch an. Marcus fluchte.

    Am anderen Ende hörte Charlotte Krümel weinen.

    «Er will das Monster mit mir suchen.»

    Charlotte kannte diese Erziehungsmaßnahme ihres Stiefvaters, der auch ihr so die Angst hatte austreiben wollen, als sie noch ein Kind war. Sie registrierte, dass ein Polizist in Uniform zum Kirchenportal hereinkam und sich suchend umschaute. Marcus wollte durch das linke Seitenschiff nach draußen verschwinden, aber die Tür war abgeschlossen. Borowski betete vor dem Altar. Der Polizist beobachtete Marcus, der abdrehte und in der Tür mit der Toilettenaufschrift verschwand. Der Mann lief ihm hinterher. Mist!

    «Du musst keine Angst haben. Es gibt kein Monster im Keller», sprach Charlotte leise ins Telefon. Beim Gedanken daran, wie ihr Stiefvater sie als Kind stundenlang dort unten im Dunkeln eingesperrt hatte, roch sie wieder die modrige Feuchtigkeit und hörte das Gurgeln der Abflussrohre, das damals wie das Atmen einer lauernden Bestie geklungen hatte. «Krümel, wo ist Mama?»

    «Schläft.»

    Um diese Zeit? Das bedeutete, sie war betrunken und bekam nichts von dem mit, was ihr unberechenbarer Ehemann mit ihrer siebenjährigen Tochter anstellte.

    «Okay. Sag ihm, du hast dich geirrt. es gibt kein Monster dort unten. Dann lässt er dich in Ruhe.»

    «Aber … »

    «Vertrau mir!», sagte sie und legte auf. Mehr konnte sie im Moment nicht für ihre Schwester tun. Später würde sie ihre Mutter anrufen und sie zur Rede stellen. Sie würde ihr wieder mit dem Jugendamt drohen. Das zog meistens, dann riss sie sich zumindest für einige Zeit zusammen und schaute ihrem Ehemann auf die Finger. Noch war Charlotte nicht so weit, dass sie Krümel zu sich nehmen konnte, aber das war ihr Ziel.

    Sie steckte das Handy ein und beschleunigte ihren Schritt in Richtung Toilette. Irgendwie musste sie den Polizisten von Marcus ablenken.

    «Hallo, hier bin ich!», rief sie dem Mann zu, der die Klinke der Toilettentür herunterdrückte. Er drehte sich zu ihr um und ließ los.

    «Das ging aber schnell! haben Sie ihn erwischt?»

    «Wen erwischt?» Der Polizist guckte sie irritiert an.

    Völlig aufgelöst erzählte Charlotte ihm eine verworrene Geschichte von einem Typen, der sie bis auf den Kirchplatz verfolgt und belästigt hat. «Mir blieb nur, mich in die Kirche zu flüchten. Ich bin ja so dankbar, dass Sie so schnell gekommen sind.»

    Der Polizist hörte ihr aufmerksam zu, und sie beobachtete, wie Marcus hinter seinem Rücken aus der Tür schlüpfte und verschwand. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Borowski ihr einen anerkennenden Blick zuwarf. Na also. So blöd schien sie sich gar nicht anzustellen.

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